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Andorra

Mitschuldige sind überall
von Carl Riess
(DIE ZEIT, 03.11.1961)

 

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat ein Stück gegen den Antisemitismus geschrieben.

„Eigentlich handelt das Stück gar nicht von Antisemitismus“, meinte Frisch, als ich mich vor einigen Monaten mit ihm in Rom darüber unterhielt. „Der Antisemitismus ist nur ein Beispiel.“
Jedenfalls handelt es sich um ein Drama, in dem kein Jude vorkommt. Nur einer, der fälschlich für einen Juden gehalten wird. Aber der wird zu Tode gehetzt – eben deswegen. Nachher will es keiner gewesen sein. […]
Einer, der sie durchschaut – der aber nicht den Mut hat, außer der Reihe zu tanzen, schreit: „Jud! Jedes dritte Wort, kein Tag vergeht, jedes zweite Wort, kein Tag ohne Jud, keine Nacht ohne Jud. Jud, Jud, kein Witz ohne Jud, kein Geschäft ohne Jud, ich höre Jud, wo keiner ist, Jud, Jud und nochmals Jud!“ […]
Frisch läßt Andri, den Jüngling, von dem alle glauben, er sei ein Jude, sagen: „Ich bin nicht anders. Ich will nicht anders sein!“
Vergebens. Er lernt einzusehen, daß man nicht ist, was man ist, sondern das, was die anderen in einem sehen. […]
Das Problem des „Bildnisses“ wurde Frischs zentrales Problem.
[…] Aber wer war man denn? Wer war er denn? War er wirklich er selbst, oder war er das Bildnis, das sich andere von ihm gemacht hatten? Versuchte er unbewußt, diesem Bildnis nachzuleben? Oder tat er es bewußt?
[…] Das Bildnis, das sich die Welt von einem Menschen gemacht hat, raubt ihm seine Unschuld, verfolgt ihn, erdrückt ihn. Der Mensch wird zum Gefangenen dieses Bildes. Er ist verurteilt, der zu sein, für den die anderen ihn halten.
Dies ist auch das Thema des Stückes „Andorra“.
Andorra ist also klein und von kleinen Leuten besiedelt, die ganz freundlich, ganz nett sind, keine Bösewichte, durchaus nicht unsympathisch, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Wenn man will, sind sie sogar Biedermänner. Wie eben jener Biedermann in der gleichnamigen Komödie, die Frisch schrieb, bevor er an „Andorra“ ging.
[…] Die Biedermänner in „Andorra“ sind bequem Ihre Hauptbequemlichkeit liegt im Vorurteil. Und das betrifft vor allem die Juden. Es ist so leicht, für alles, was an Unangenehmem auf der Welt passiert, andere verantwortlich zu machen. Warum nicht die Juden?
Der Tischler ist ein geldgieriger Mann; also behauptet er, die Juden seien geldgierig. […] Der Wirt ist ein Feigling – und ein Mörder aus dem Hinterhalt; also behaupte: er, die Juden seien feige. Der Doktor ist einer, der sein Vaterland dafür verantwortlich macht, daß er es zu nichts gebracht hat; also behauptet er, die Juden seien unpatriotisch.
Nachher, als der vermeintliche Jude zugrunde geht, sagen alle, sie hätten keine Schuld. Das hätten sie nicht gewollt. Aber ihre Schuld, ihre Kollektivschuld, ist ihr kollektives Vorurteil.
Frisch: „Jeder Mensch ist verpflichtet, jeden seiner Mitmenschen ohne Vorurteil zu betrachten.“ Das ist eine ungeheuere Forderung.
Der Junge in Andorra, der für einen Juden gehalten wird, wehrt sich. Er mag ein Jude sein, gewiß, alle sagen es ja, also wird es stimmen. Aber deswegen braucht er doch nicht so zu sein, wie die anderen behaupten – anders als sie. „Ich bin nicht anders, ich will nicht anders sein!“
Aber es gibt kein Entrinnen. Der Soldat sagt: „Ein Andorraner hat keine Angst. Aber du hast Angst! Weil du feig’ bist!“
Andri: „Wieso bin ich feig?“
„Weil du Jud’ bist.“
Andri wird nachdenklich. „Ich denke, ob’s wahr ist, was die anderen sagen…“ Und: „Ich weiß nicht, wieso ich anders bin als alle. Ich seh’s nicht.“
Aber es nutzt ihm nichts, daß er es nicht begreift. Die Tatsache, daß die anderen ein Vorurteil gegen ihn haben, daß sie sich ein Bild von ihm gemacht haben, wiegt stärker als die Wahrheit.
Und dann haben sie ihn angesteckt. Auf einmal weiß er, daß er anders ist, eben so, wie die anderen behaupten, daß er sei.
Frisch: „Die Quintessenz: die Schuldigen sind sich keiner Schuld bewußt, werden nicht bestraft, sie haben nichts Kriminelles getan. Ich möchte keinen Hoffnungsstrahl am Ende, ich möchte vielmehr mit diesem Schrecken enden, […] wie skandalös Menschen mit Menschen umgehen.“
„Die Schuldigen sitzen ja im Parkett. Sie, die sagen, daß sie es nicht gewollt haben. Sie, die schuldig wurden, sich aber nicht mitschuldig fühlen. Sie sollen erschrecken“, meinte Frisch, „sie sollen, wenn sie das Stück gesehen haben, nachts wach liegen.“
Ich fragte ihn, ob er an ein bestimmtes Publikum gedacht habe, als er das sagte. Ich fragte, ob es ein bestimmtes Land gebe, in dem der größere Teil des Publikums Mitschuldige seien.
„Die Mitschuldigen sind überall“, antwortete Frisch.

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