Ein verdrängter Völkermord? – Fachtag am Fördegymnasium
Der grausame Völkermord an den Herero und Nama 1904 bis 1908 im heutigen Namibia, ausgehend von Deutschland: Ein Paradebeispiel für die Skrupellosigkeit und die Auswirkungen des Kolonialismus auf ganze Völker.
Der Fachtag am 28.12.2023 sollte dem Geschichtsprofil des 11. Jahrgangs eine Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglichen. Stattgefunden hat dies unter der Leitung von Sebastian Rösner, Bildungsreferent für politische Bildung der Deutschen Gesellschaft e.V., in Zusammenarbeit mit Israel Kaunatjike, einem engagierten Aktivisten, der nach Gerechtigkeit für die Herero und Nama strebt.
Um in die Thematik einzusteigen, erarbeitete Sebastian Rösner mit der Klasse die Definition von „single stories“ und die damit verbundene Problematik: Die Vermittlung eines falschen Bildes einer Gruppe, die schließlich zu ihrer Identität wird. Durch die Rede „The danger of a single story“ von Chimamanda Adichie, eine 46 Jahre alte Schriftstellerin, die über ihr Verständnis und die Bedeutung von „single stories“ aufklärt, wurde das Problem noch einmal vertiefender behandelt. Die Nigerianerin erklärt in ihrer Darstellung, dass diese „stories“ einseitige Erzählungen sind, die andere Narrative störend wirken lassen. Bei Ihnen ist ausschlaggebend, wer sie erzählt und wie sie weitererzählt werden. „Single stories“ haben das Potential, großen Einfluss auszuüben, da sie individuell von Kultur, Werten und Normen des Erzählers bzw. der Erzählerin geprägt werden. „They make one story the only storie“, wie Chimamanda Adichie es ausdrückt. Dies beschreibt einen Prozess, bei dem sich an Klischees und veralteten Weltbildern bedient wird, die in ihrer Gültigkeit nicht zutreffen.
Mit Bezug auf das Thema des Fachtags wurde deutlich erkennbar, dass eine abwertende und rassistisch geprägte Differenzierung zwischen Afrika und der europäischen Welt mit Hilfe von „single stories“ geschaffen worden ist, die bis heute anhält.
Mit einem gemeinsam erarbeiteten Zeitstrahl unter Anleitung Herrn Rösners wurde anschließend Hintergrundwissen ab dem Jahr 1492 und der “Entdeckung” Amerikas durch Kolumbus bis in das heutige Jahrhundert erarbeitet. Hierbei wurden Bildquellen in eine Zeitspanne und einen historischen Zusammenhang gebracht. Im Mittelpunkt stand hierbei die immer mehr voranschreitende Entwicklung des Kolonialismus und späteren Imperialismus mit dem Fokus auf die Zeit des Hochimperialismus.
Das imperialistische Zeitalter zeigt auch heute noch seine Präsenz und Auswirkungen. Festgemacht wurde dies nun konkret am Beispiel des Herero-Aufstands 1904 in Deutsch- Südwestafrika, damals vom deutschen Kaiserreich kolonialisiert. Deutlich wird die ehemalige Kolonialisierung im heutigen Namibia immer noch an z. B. Denkmälern oder Straßennamen. Ergänzend wurde die Reportage „Das Erbe des Kolonialismus – Eine deutsch-namibische Spurensuche“ von Arte aus dem Jahr 2022 geschaut, die mithilfe verschiedener Interviews unterschiedliche Meinungen zur kolonialen Vergangenheit Namibias darstellt und so der Lerngruppe ein noch ausführlicheres Bild vermitteln konnte.
Israel Kaunatjike wirkte selbst bei der Dokumentation aktiv mit und erläuterte im Anschluss die momentane Lage im heutigen Namibia und klärte ergänzend über den Umgang Deutschlands, damaliger kolonialer Hauptakteur, mit seiner Kolonialgeschichte auf. Seine Anwesenheit bot den Schülern die Möglichkeit, alle offenen Fragen zum Abschluss des Fachtags zu stellen. Auf Grund seiner Zugehörigkeit zum Volk der Herero, seines Engagements bezüglich der Anti-Apartheid-Bewegung und der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit im heutigen Namibia ist Israel Kaunatjike nicht nur ein Zeitzeuge, sondern auch ein Experte für die Folgen des Imperialismus in Afrika. Auf Grundlage dessen zeigte er der Klasse auf, warum aus seiner Sicht das Verhalten Deutschlands bezüglich des Völkermords an den Herero und Nama nicht angemessen sei, er sich für neue Verhandlungen des 2021 ausgearbeiteten Versöhnungsabkommens zwischen Deutschland und Namibia ausspreche und das aktive Einbeziehen der Nachkommen seines Volkes sowie direkte Reparationszahlungen statt der angesetzten Entwicklungshilfe angemessen seien.
Durch das authentische Auftreten Sebastian Rösners und Israel Kaunatjikes und ihr eigenes Interesse an der vielseitigen Thematik des Kolonialismus und den damit verbundenen Problemen, die Länder und Gesellschaften bis heute betreffen, haben sie es nicht nur geschafft, Wissen zu vermitteln, sondern auch die Neugier der Schülerinnen und Schüler zu wecken, sich mit geschichtlichen Ereignissen und ihren Auswirkungen bis in die heutige Zeit auseinanderzusetzen.
Mit dem Appell „Wer nicht kämpft, der hat schon verloren!”, richtete sich Herr Kaunatjike am Ende direkt an die Schülerschaft, um Ihnen mit auf den Weg zu geben, dass jede/r eigenständig für ihre bzw. seine Meinung und Wünsche einstehen sollte, auch wenn diese nicht der Norm entsprechen, um geschehenes Unrecht sichtbar zu machen und eine angemessene Form der Verständigung und Versöhnung zu erzielen.
Maxine Ketelhut, Adriana Rehder, Ajla Alic (11gs)